„Corona stellt uns immer wieder vor neue und schon erhebliche Herausforderungen"

Prof. Reiner Lehberger, pädagogischer Leiter von WEICHENSTELLUNG, ordnet die Bedeutung von Mentoring während der Corona-Pandemie ein, gibt einen Einblick in den Umgang mit der Situation und spricht über die Herausforderungen für die Mentor:innen, ihre Mentees und die Schulen. 

Herr Prof. Lehberger, das Ziel von WEICHENSTELLUNG ist es, chancengerechte Bildung zu ermöglichen. Was bedeutet Chancengerechtigkeit während der aktuellen COVID-19-Pandemie?

Chancengerechte Bildung bleibt, unabhängig von der aktuellen Situation und trotz der Bemühungen vieler Beteiligten, eine große Herausforderung. Die sozialen Unterschiede sind oftmals zu groß, um sie vollständig ausgleichen zu können. Der Sachverständigenrat der Deutschen Stiftung für Migration und Integration hat letztes Jahr noch einmal betont, dass die Lage insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund kritisch ist – und zu dieser Zielgruppe gehören viele Schülerinnen und Schüler in WEICHENSTELLUNG. Sie gehen weniger häufig in die Kita, sind überrepräsentiert an Hauptschulen und bei den Hauptschulabschlüssen und unterrepräsentiert auf Gymnasien. Ihre Leistungen sind zudem häufig geringer als bei denjenigen ohne Migrationshintergrund.

Dafür gibt es viele Ursachen. Schauen wir uns einmal drei davon an: mangelnde Unterstützung im familiären Umfeld, ungenügende Sprachkenntnisse oder auch dauerhafte schulische Misserfolge. Gerade diese Punkte sind in der aktuellen Corona-Krise, in der Schule fast ausschließlich im Fernunterricht stattfindet, besonders relevant. Viele dieser Schülerinnen und Schüler haben größere Schwierigkeiten, die vorgegebenen schulischen Ziele zu erreichen. Auch unsere WEICHENSTELLUNG-Mentees haben es unter Corona noch ein stückweit schwerer als in den normalen Schulzeiten.

Welchen Beitrag leistet WEICHENSTELLUNG als Mentoring-Programm für Bildungsgerechtigkeit in der aktuellen Corona-Krise und was kann Mentoring in dieser Situation bewirken?

Das Mentoring bei WEICHENSTELLUNG ist ein Zusammenspiel aus persönlicher Förderung, gerade in schwierigen Lebenslagen, und fachlicher Unterstützung. Diese Kombination spielt auch während der Corona-Krise eine zentrale Rolle.

Zu Beginn der Schulschließungen war uns vor allem wichtig, dass die Mentorinnen und Mentoren zunächst einmal den sozialen Kontakt aufrechterhalten. Sie haben geholfen, den Schülerinnen und Schülern die Situation zu erklären – für viele war es, aufgrund von Sprachbarrieren oder auch der für sie fremden Kultur, schwer zu verstehen, warum sie nicht in der Schule sind. Da konnten die Studierenden einen wertvollen Beitrag leisten. Natürlich helfen unsere Mentorinnen und Mentoren auch bei der Bewältigung der schulischen Aufgaben, auf ganz unterschiedliche Art und Weise – denn vielen Kindern und Jugendlichen stehen gar nicht die Endgeräte für einen digitalen Unterricht und virtuellen Kontakt zur Verfügung.

Wir haben uns bemüht, sowohl die persönliche Stärkung des einzelnen Mentees als auch die fachliche Unterstützung in Corona-Zeiten fortzuführen – wir wissen, dass unsere Schülerinnen und Schülern es in der momentanen Situation besonders schwer haben und wir mit dem Mentoring eine wichtige Unterstützung bieten können.

Sie haben mit den Mentor:innen gesprochen und sie auf die Situation vorbereitet. Gab es da bestimmte Handlungsempfehlungen?

Wir haben mit allen Mentorinnen und Mentoren unmittelbar nach Schulschließung persönlich telefonischen Kontakt aufgenommen. So konnten wir schnell einen Einblick in ihre Situation gewinnen. Dabei zeigte sich, dass die Herausforderungen sehr individuell sind und wir haben versucht, den Studierenden mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Dazu gehörten beispielsweise Empfehlungen für digitale Programme, Unterrichtsmaterialien sowie Kommunikationsmöglichkeiten mit den Mentees und den Schulen. Es war uns von Seiten der pädagogischen Leitung wichtig, ein engmaschiges Unterstützungsnetz zu knüpfen.

Was sind aus Ihrer Sicht derzeit die größten Herausforderungen für die Mentor:innen und für ihre Mentees?

Unsere Mentorinnen und Mentoren waren genauso gut oder wenig gut vorbereitet auf die digitale Erteilung von Unterricht und die Förderung mit digitalen Medien wie es die Schulen waren. Daher war es besonders wichtig, uns mit den Schulen in Verbindungen setzen. Die Mentoren stimmen sich eng mit den Klassenlehrkräften ab, um ihre Unterstützung an das Lehrangebot der Schulen anzupassen. Das war und ist nicht immer einfach.

Eine weitere Herausforderung war die besondere Situation, in der sich die Mentorinnen und Mentoren selbst befinden. Der gesamte Uni-Betrieb hat sich verschoben, die Perspektiven sind unklar und auch dort läuft inzwischen alles virtuell. Das kann zu einem verständlichen Frust und Überdruss führen, wenn sowohl der eigene Unterricht als auch die zu gebende Unterstützung für die Mentees ausschließlich digital möglich sind. Die soziale Nähe zu den Kommilitonen, zum sozialen Umfeld an der Universität fehlen auch unseren Studierenden.

Welches Feedback erhalten Sie von den Mentor:innen, wie hat sich die Situation entwickelt? Wie sind die Mentees mit der Situation umgegangen?

Die Situationen bei unseren Mentees sind sehr unterschiedlich. Der gelungene Fernunterricht, bei dem ein Schüler mit einem eigenen Laptop aufmerksam in seinem Zimmer sitzt und schulischen Angeboten nachkommt – das ist eher die Ausnahme. Wir fördern Kinder, die es von zu Hause aus eher schwer haben und das zeigt sich auch in der Ausstattung und den räumlichen Gegebenheiten, z. B. einem fehlenden eigenen Zimmer – einer Grundvoraussetzung, um in Ruhe und konzentriert arbeiten zu können.

Die anfänglichen technischen Schwierigkeiten konnte unsere Mentorinnen und Mentoren meist überwinden, viele kommunizieren inzwischen über Videotelefonate mit ihren Mentees. Auch organisatorische Problem haben wir individuell gelöst. Wenn zum Beispiel ein gemeinsamer Termin mit allen drei Mentees nicht möglich ist, finden Einzelgespräche statt. Diese individuelle Förderung könnte sogar eine Chance für WEICHENSTELLUNG für die Zukunft sein, denn gerade für unseren Mentees in den internationalen Vorbereitungsklassen ist jede individuelle Kommunikation eine Möglichkeit, die Sprachfähigkeiten zu verbessern.

Allerdings lässt sich die Schule mit ihren persönlichen Begegnungen und sozialen Interaktionen nicht ersetzen. Wir bei WEICHENSTELLUNG sind froh, wenn ein Großteil des Unterrichts hoffentlich bald wieder aufgenommen wird – und das sehen auch die Mentees so, sie möchten gern wieder zurück in die Schule.

Wie sieht konkret die Förderung der WEICHENSTELLUNG Mentees nach der Schulöffnung aus – treffen sich die Mentor:innen mit ihren Mentees wieder?

Da orientieren wir uns an den Vorgaben und Regeln der Schulen und stehen in enger Abstimmung mit ihnen. Als der Unterricht für spezifische Gruppen wieder aufgenommen wurde, haben wir umgehend Kontakt aufgenommen, um auch unsere Unterstützung an den Schulen wieder zu ermöglichen.

Dennoch bleibt der digitale Weg der Förderung wohl noch eine Weile erhalten, in Kombination mit persönlicher Förderung in den Schulen, soweit möglich. Gemeinsam mit den Schulen arbeiten wir an Lösungen für die momentane Situation und auch für das kommende Schuljahr. Es ist ein reger Kommunikationsprozess im Gange – Corona stellt uns alle immer wieder vor neue und erhebliche Herausforderungen.


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